Gegen Kindesmissbrauch am „Tag der Befreiung“ – Frankfurter Neonazis versuchen NPD-Strukturen zu reaktivieren

Am kommenden Samstag, den 8. Mai, jährt sich die Niederschlagung des Nationalsozialismus zum 76. Mal. Für viele Menschen die unter den Nazis gelitten haben ist es vor allem der „Tag der Befreiung“, welcher das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Shoah bedeutete. Auch in Frankfurt (Oder) wird es dazu Gedenkveranstaltungen geben. Frankfurter Neonazis wollen den Tag stattdessen nutzen um mit einem anderen Thema von der Niederlage ihrer Vorbilder abzulenken. Ab 11 Uhr wollen Reste früherer NPD-Strukturen gegen Kindesmissbrauch auf dem Bahnhofsvorplatz eine Kundgebung abhalten.

Aufruf der NPD für eine Kundgebung am 08. Mai 2021

Bekannte Gesichter hinter neuer NPD Struktur

Die Frankfurter Neonazi-Szene scheint wieder aktiver zu werden. Seit den Jahren 2012 und 2015-2016, als in der Oderstadt mehrere Neonazi-Demonstrationen stattgefunden haben, fiel die extreme Rechte in der Region lediglich durch Graffiti-Aktionen und Bedrohungen auf. Beteiligungen an Aufmärschen nahmen dagegen merklich ab und wurden zuletzt kaum noch registriert. Bei einer Kundgebung von Corona-Leugner*innen im November letzten Jahres wurden zwar örtliche Neonazis gesichtet, hielten sich aber eher im Hintergrund.[1] Seit kurzem gibt es nun wieder eine Facebook-Gruppe mit dem Namen „NPD Frankfurt Oder“, welche bislang lediglich 21 Mitglieder umfasst. Dennoch macht man sich daran schnell wieder eine „nationale Gruppe“ aufzubauen. Am Samstag, den 17. April soll es bereits einen ersten Stammtisch gegeben haben. Als Admin der Gruppe tritt der User „Siggi Pauly“ auf, der mit richtigem Namen sehr wahrscheinlich Siegfried Günther heißt. Bislang ist der Neonazi eher unauffällig gewesen. Seine letzte Teilnahme an einer extrem rechten Veranstaltung nahmen Antifaschist*innen im Jahr 2017 wahr. Damals nahm er am 1. Mai an einer Querfront-Kundgebung vor dem Frankfurter Rathaus teil.[2] Neben Günther finden sich noch weitere bekannte Gesichter in der Facebook-Gruppe. Dazu gehören die seit Jahren in der Szene aktiven Neonazis Mario Schreiber, Marian Schulz, Ronny Standera und Marko Deichmann. Ein Fan der Frankfurter Kamerad*innen scheint zudem der NPD-Landesvorsitzende Klaus Beier zu sein. Er taucht ebenfalls als Mitglied der Gruppe auf. Auf den Beitragsbildern der Seite erkennt man weitere bekannte Rechte, die ebenfalls schon früher auf neonazistischen Versammlungen gesichtet wurden.
Auch im Stadtbild wollen die Ewiggestrigen nun aktiver auftreten. Haben diese Anfang April noch Flyer gegen den „Corona-Wahnsinn“ verteilt, konzentrieren sie sich inzwischen auf das Thema Kindesmissbrauch.

Geben sich bürgernah: „Siggi Pauly“ (oben r.) und ein Kamerad verteilen Flyer

Auslöser dafür dürfte  sein, dass in der Oderstadt die Adresse eines verurteilten Sexualstraftäters an die Neonazis gelangt ist. Eine erste unangemeldete Demonstration zum Wohnort des beschuldigten Mannes soll es bereits vergangene Woche gegeben haben. Etwa 15 Personen zogen mit Fackeln vom Dresdener Platz kommend durch die Tunnelstraße und Große Müllroser Straße zur Kleinen Müllroser Straße. Auf selbstgemalten Transparenten war dort zu lesen „Todesstrafe für Kinderschänder!!!“ und „Missbrauch ist Seelenmord – FN-Bürger FFO“. Eine erste offizielle Kundgebung soll es dazu nun am 8. Mai geben.

Fackelmarsch extremer Rechter vor einer Woche

Kindesmissbrauch beliebtes Thema von Neonazis

Dass sich Neonazis für Kindesmissbrauch interessieren ist kein neues Phänomen. Bereits vor über zehn Jahren griffen NPD-Strukturen das Thema auf und forderten an Orten wo vermeintliche Sexualstraftäter leben die Todesstrafe für die Beschuldigten. Auch in Brandenburg stand Kindesmissbrauch im Mittelpunkt mehrerer Demonstrationen, wie etwa im kleinen Örtchen Joachimsthal, im Barnim, im Sommer 2009.[3] Mit dem Schutz von Kindern hatte das Engagement der Neonazis damals wie heute jedoch nichts zu tun. Das Thema ist hochemotional besetzt. Obwohl die Straftaten an Kindern nur einen sehr geringen Prozentsatz in der Kriminalstatistik einnehmen,[4] wird darüber deutlich häufiger in der Öffentlichkeit diskutiert als über andere Gewaltverbrechen. Der Grund ist, dass minderjährige Opfer von sexueller Gewalt ein Trauma, nicht nur in den betroffenen Familien, sondern in einer gesamten Stadt, Region oder Land auslösen können. Die Empörung darüber ist enorm und die berechtigten Ängste, dass das eigene Kind auch davon betroffen sein könnte sind weit verbreitet nach solchen Taten. Die Verurteilung solcher Verbrechen ist eindeutig und so machen sich Neonazis seit Jahren eben deshalb das Thema zu Nutze. Wenn die extreme Rechte gegen Kindesmissbrauch Position bezieht, erfährt sie auch Zustimmung in der Bevölkerung. NPD und andere extrem rechte Strukturen waren in den vergangenen Jahren sehr schnell und mitunter die Ersten, die nach Bekanntwerden solcher Taten auftauchten und mit eindeutigen Transparenten vor Ort demonstrierten. Der Schutz der betroffenen Familien und Kinder spielte dabei keine Rolle. Sitzt der Schock der Opfer noch tief, nutzen Neonazis die Situation, um diese mit eigenen Parolen zu instrumentalisieren. Schon vor über zehn Jahren gehörte das zur „Normalisierungsstrategie“ der Rechten: Das aufgreifen populärer Themen, um sich selbst als sympathische politische Alternative erscheinen zu lassen.[5]
Doch hinter dieser Taktik versteckt sich Antisemitismus, Rassismus und völkisches Denken.
Die Forderung nach einer „Todesstrafe für Kinderschänder“ tauchte bereits zu Zeiten des Nationalsozialismus auf. Jüdinnen*Juden wurden in der Propaganda der Nazis als „Rassenschänder“ bezeichnet. In einer Vielzahl an antisemitischen Darstellungen wurde das Bild des „Juden“ als Täter sexueller Gewalt und „Knabenschänder“ reproduziert. Unter der Herrschaft der NSDAP wurden drakonische Strafverschärfungen eingeführt, in deren Folge die einschlägig vorbestraften Täter*innen kastriert und in die Konzentrationslager eingeliefert wurden, wo sie zu den ersten gehörten, die gezielt ermordet wurden.[6] Heute wie damals wird zudem Schwarzen Männern ein triebhaftes Sexualverhalten unterstellt. Dies grenze sich aber von dem gewollten Liebesakt weißer Nordeuropäer*innen ab. Ist der*die Täter*in nicht-weiß, so wird das Verbrechen zusätzlich rassifiziert, wobei die Deutungshoheit hier eben vor allem von Männern bestimmt wird, in deren Rhetorik es um den vermeintlichen Schutz ihrer Frauen und Kindern geht.[7]
Ein weiterer Aspekt ist die Ablehnung des demokratisch verfassten Rechtssystems. Dies wird im Beitrag in einem Beitrag von „Siggi Pauly“ deutlich, wo dieser schreibt: „Leider mussten wir erfahren,das auch in unserer Oderstadt Pädophilie und Kinderschänder ihren Trieben zum Nachteil unserer Kinder nachgehen können, ohne das es die Behörden Interessiert,ob die nur zu Bewährungsstrafen- trotz nachweislich mehrfacher Verbrechen Verbrechen an Kindern-verurteilter Triebtäter wahrscheinlich weiter ihr Unwesen treiben.“[8] (Fehler im Original) Nach Logik der Neonazis würde das „System“ zu wenig gegen die Täter*innen tun. Lieber wollen die Neonazis das Recht in eigene Hand nehmen. Die Forderung der Todesstrafe gehört dabei zu der rigiden Law-and-Order-Logik der extremen Rechten. Menschenleben sind in ihren Augen wenig wert, wenn sie dem „Volk“ schaden. Die Auslöschung „unnützen Lebens“ ist die einfachste Lösung.

Die NPD in der Oderstadt seit Jahren am Boden

Frankfurt (Oder) galt einst als eine Hochburg der NPD in Brandenburg. In den 1990er Jahren terrorisierten ihre Anhänger*innen in der Stadt alle Menschen die nicht in ihr menschenverachtendes Weltbild passten. Hetzjagden, Brandanschläge und schwere Körperverletzungen wurden fast täglich von Antifaschist*innen registriert. Mit Jörg Hähnel saß sogar ein führender Vertreter der Partei ab 1998 im Frankfurter Stadtparlament. Nach dem Wegzug des auch als Liedermachers bekannten Neonazis nach Berlin 2001, verlor die örtliche Szene zunächst sein wichtigstes Zugpferd. Neonazistische Gewalt bestimmte zwar weiterhin das Bild der Stadt, aber Parteistrukturen konnten keine neuen aufgebaut werden. Ab 2006 verstärkte jedoch die NPD wieder ihre Aktivitäten. Der für die Region zuständige Kreisverband „Oderland“ der NPD wollte das Potential der mit Abstand größten Stadt im Verband nicht verschenken. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten präsentierte sich der Frankfurter Roland Weiß während einer Demonstration am Jahrestag der Auschwitz-Befreiung 2007 als neues Gesicht eines zukünftigen neuen Stadtverbands und kündigte einen „Sturm auf das Rathaus“ an.[9]
Von den großen Ankündigungen blieb damals nicht viel übrig. Der neue Vorsitzende Weiß zog sich bereits im Herbst 2007 von der NPD zurück. Auslöser dafür könnten die Aufklärungsarbeit örtlicher Antifaschist*innen und ein Brandanschlag auf seinen PKW gewesen sein. Neue Aktivitäten konnte die Partei seitdem in der Stadt kaum noch entfalten. Zwar gibt die NPD bis heute an einen Stadtverband in Frankfurt zu besitzen, Aktivitäten sind seit Jahren, abgesehen von gelegentlichen Flugblattaktionen, so gut wie keine zu beobachten. Bei Demonstrationen und Versammlungen von Neonazis in den vergangenen Jahren waren Frankfurter Neonazis höchstens als Fahnen- oder Transparent-Träger*innen gesichtet wurden.[10]
An fähigen Kamerad*innen scheint es weiterhin zu fehlen. Zudem hat die AfD mit ihrer extrem rechten Rhetorik der NPD auch in der Oderregion viele Stimmen abgenommen. Nun wollen also Siegfried Günther, Mario Schreiber und Co. erneut versuchen durch das Thema „Kindesmissbrauch“ Sympathisant*innen für örtliche NPD-Strukturen zu gewinnen. Wieviele Teilnehmende die Neonazis mit dem Thema am Samstag zu ihrer Kundgebung locken können, bleibt abzuwarten. Dass sich mehr als 20 Teilnehmende vor Ort versammeln, wie zuletzt die ebenfalls am Boden liegende Berliner NPD am 1. Mai am Berliner Alexanderplatz versammelte, darf bezweifelt werden.[11] Mit einer Offensive zur anstehenden Bundestagswahl dürfte ebenso wenig zu rechnen sein. Bei den letzten Landtags- und Kommunalwahlen trat die Partei schon gar nicht mehr an und bei der Wahl zum Europaparlament vor zwei Jahren gaben im Frankfurter Wahlkreis lediglich 112 Menschen (0,5%) der NPD ihre Stimme.[12]

1 Vgl. Antifaschistische Recherchegruppe Frankfurt (Oder) (2021): Kein Platz für Neonazis? – Extrem rechte Beteiligung auf Frankfurter Querdenken-Kundgebung am 28. November 2020. https://recherchegruppeffo.noblogs.org/post/2021/03/02/kein-platz-fuer-neonazis-extrem-rechte-beteiligung-auf-frankfurter-querdenken-kundgebung-am-28-november-2020/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
2 Vgl. Inforiot (2017): Querfront-Kundgebung am 1. Mai in Frankfurt (Oder) ohne Gegenprotest. https://inforiot.de/querfront-kundgebung-am-1-mai-in-frankfurt-oder-ohne-gegenprotest/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
3 Vgl. Inforiot (2009): NPD erneut in Joachimsthal — Mahnwache mit 70 Nazis am vergangenen Freitag. https://inforiot.de/npd-erneut-in-joachimsthal-mahnwache-mit-70-nazis-am-vergangenen-freitag/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
4 Vgl. Bundespressekonferenz e.V. (2020): Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer –Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2019. https://beauftragter-missbrauch.de/fileadmin/Content/pdf/Meldungen/2020/05_Mai/11/Pressemappe_PK_PKS_2019.pdf (abgerufen am 04. Mai 2021)
5 Vgl. Rafael, Simone (2009): Warum engagieren sich Neonazis gegen „Kinderschänder“? https://www.belltower.news/warum-engagieren-sich-neonazis-gegen-kinderschaender-30514/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
6 Vgl. Radvan, Heike (2015): Historische Perspektiven. In: Amadeus Antonio Stiftung (Hrsg.): Instrumentalisierung des Themas sexueller Missbrauch durch Neonazis. S. 10f. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/08/instrumentalisierung-des-themas-sexueller-missbrauch-durch-neonazis-1.pdf.
7 Vgl. Berg, Anna; Goetz, Judith; Sanders, Eike (2018): Toxische Männlichkeit von Kandel bis Chemnitz. https://www.apabiz.de/2018/toxische-maennlichkeit-von-kandel-bis-chemnitz/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
8 Facebook-Beitrag von „Siggi Pauly“ vom 25.04.2021 (09:43 Uhr)
9 Vgl. Antifaschistische Recherchegruppe Frankfurt (Oder) (2007): Verstärkte NPD-Aktivitäten münden in Stadtverbandsgründung. https://recherchegruppeffo.noblogs.org/post/2007/03/03/verstaerkte-npd-aktivitaeten-muenden-in-stadtverbandsgruendung/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
10 Vgl. Antifaschistische Recherchegruppe Frankfurt (Oder) (2014): Die NPD am 1. Mai in Brandenburg – Gewaltbereit in den Wahlkampf. https://recherchegruppeffo.noblogs.org/post/2014/05/21/die-npd-am-1-mai-in-brandenburg-gewaltbereit-in-den-wahlkampf/ (abgerufen am 04. Mai 2021)
11 Vgl. Presseservice Rathenow [@PresseserviceRN]. (2021). Am #Alexanderplatz in #Berlin endete gerade eine Spontankundgebung der JN. Die Polizei führt die Neonazis nun in den Bahnhof #b0105 [Tweet]. Twitter. https://twitter.com/PresseserviceRN/status/1388534723614543872.  Twitter-Eintrag vom 1. Mai
12 Vgl. Europawahl 2019 (2019): Stimmenanteile für die Stadt Frankfurt (Oder). https://www.bundeswahlleiter.de/europawahlen/2019/ergebnisse/bund-99/land-12/kreis-12053.html abgerufen am 04. Mai 2021)

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